Wie schmeckt Heimat? Gedanken über Latwersch und Schales, Spansau und Fedi [HEIMATKÜCHE - die Serie]


17|11|2015   Wie schmeckt Heimat? Hast Du einen bestimmten Geschmack auf der Zunge, wenn Du an Dein Zuhause denkst. Welche Speisen, Gerichte und Getränke steigen vor Deinem inneren Auge auf, wenn Du an die Region denkst, in der Du groß geworden bist oder schon viele Jahre lang lebst? Vielleicht Riwwekuchen (Reibekuchen) mit Apfelmus? Eine Stulle mit frischem Latwersch (Pflaumenmus) oder Quetschekuche mit Schlagsahne? Oder sind für Dich Backesgrumbeere, ein Sauerbraten mit Klees (Klößen), Grünkohl mit Pinkel oder das traditionelle Hunsrücker Kartoffelgericht Schales Heimat?

Heimatküche und Weinbau an der Nahe.


Heimatküche - die Serie

Na, läuft Dir jetzt beim Gedanken an Dein „Heimatessen“ auch schon das Wasser im Mund zusammen? Nicht nur die Liebe geht, wie das Sprichwort sagt, durch den Magen, sondern auch unser Heimatgefühl. Bestimmte Speisen, Lebensmittel und Zutaten, aber auch bestimmte Zubereitungsweisen und Getränke sind eng mit unserer Herkunfts- und Heimatregion verbunden. Den Verflechtungen zwischen unserer Heimat und den kulinarischen Genüssen möchten wir hier im Blog Moderne Topfologie in den kommenden Wochen in einer losen Serie nachgehen. Verschiedene Autoren begeben sich auf Spurensuche in der Region Nahe, die vom Soonwald und dem südlichen Hunsrück, der Nordpfalz und Rheinhessen umrahmt wird. So werden wir in einem Teil der Serie von unserem Gespräch mit Akteuren der Regionalmarke SooNahe berichten und klären, wie die heimatliche Küche gepflegt, entwickelt und gefördert werden kann. In einem weiteren Teil stellen wir die neue Aktion „Siwwe Daach - Siwwe Klees“ vor, ein Konzept zur Verbesserung der kulinarischen Rationalität im Hunsrück und an der Nahe.

Machen sich für die Heimatküche stark (v. l.): Matthias Harke, Vorsitzender des Vereins Gastland Nahe, und Koch Heinz Kaul, der im Kochbuch seiner Großmutter mit handschriftlichen Rezepten aus der Region blättert.
Machen sich für die Heimatküche stark (v. l.): Matthias Harke, Vorsitzender des Vereins Gastland Nahe, und Koch Heinz Kaul, der im Kochbuch seiner Großmutter mit handschriftlichen Rezepten aus der Region blättert.  Foto rechts: Anette Rump

Der heutige Start der Serie rückt zwei Fachleute in Sachen Heimatküche ins Zentrum: den Vorsitzenden des Clubs der Köche im Nahetal, Heinz Kaul, der zugleich Kultur- und Weinbotschafter der Nahe ist, und den Vorsitzenden des Vereins Gastland Nahe, Matthias Harke, der den von Reiner Jäck 1994-1995 an der Nahe ins Leben gerufene Rezeptwettbewerb „Dibbegucker” fortführt. Meine Kollegin Anette Rump hat mit beiden über das Thema Heimat und Genuss gesprochen und ist unter anderem der Frage nachgegangen, woraus sich unser Heimatgefühl beim Essen speist.


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Disteln stechen und Schales essen gehören zusammen wie Latwersch kochen und ein Schwätzchen halten

Jeder Region hat ihre eigene Heimatküche und Heimatgetränke - und essen und trinken wir - egal wo auf der Welt - etwas aus dieser Küche, dann durchströmen uns unweigerlich Heimaterinnerungen und -gefühle. Doch woraus speist sich dieses Heimatgefühl beim Essen? Und wie genau schmeckt bei uns an der Nahe und im Hunsrück Heimat? Wie eng das Heimatgefühl und der kulinarische Genuss speziell mit Kindheitserinnerungen und -erlebnissen verbunden sind, erfuhren wir beim Gespräch mit dem Kultur- und Weinbotschafter Heinz Kaul aus Niederhausen an der Nahe und dem Vorsitzenden des Vereins Gastland Nahe, Matthias Harke, der in Norheim an der Nahe lebt.

"Wir freuten uns schon während des Distelstechens auf das Riesenstück Schales mit dicker Kruste."
Heinz Kaul erinnert sich noch genau daran, wie er als Kind auf den Kornfeldern beim Distelstechen half. Während dieser Arbeit wurde der Ofen mit Holz angefeuert und Kauls Oma stellte eine Eisenpfanne* mit Dörrfleisch und Schales, dem im Bad Kreuznacher Raum so bekannten Kartoffelkuchen, hinein. „Das duftete traumhaft und wir freuten uns während des Distelstechens schon auf das Riesenstück Schales mit ganz dicker Kruste, das wir im Anschluss an die Arbeit in den Händen halten würden.” Matthias Harke bringt Latwersch, das durch stundenlanges Kochen reduzierte Pflaumenmus, mit Heimat in Verbindung. Der köstliche Brotaufstrich steht für ihn aber nicht nur für einen „Genuss mit allen Sinnen“, sondern auch für die Bewahrung der regionalen Traditionen, für Kommunikation und Gemeinschaft. „Das stundenlange Einkochen und Umrühren wurde traditionell in einer großen Gruppe bewerkstelligt, und es wurde dabei geklatscht und getratscht. So wurden der Zusammenhalt und die persönliche Verbundenheit zueinander gestärkt“, so Harke. Dies ist auch für Kaul ein wichtiger Aspekt: „Denn bei der Frage, wie Heimat schmeckt, geht es nicht nur um die Lust und den Genuss am Essen im Besonderen, sondern auch um das Leben in der Region insgesamt“.


Nur ein ganzheitliches Erleben verzahnt das Heimat- und Genussempfinden

Die Verflechtung von Essen und Heimat speist sich aus einem „ganzheitliches Erlebnis“, bei dem eine Fülle von Sinneseindrücke und Wahrnehmungen zusammenkommen, betonen beide. Es gehe um ein „Genießen mit allen Sinnen“, und dies eng verbunden mit den Jahreszeiten. „Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Herbstzeit, wenn das ganze Dorf während und nach der Weinlese nach Trester riecht, der Geruch nach Federweißer in der Luft hängt und man in der schweren und feuchten Waldluft auf Pilzsuche gehen kann.“ Für Heinz Kaul erinnert in dieser Zeit besonders die Martinsgans oder die Gänsekeule an Heimat. „Mit Gänsefleisch hier aus der Region, das noch nach Gans schmeckt, mit hausgemachten Kartoffelknödeln und Rotkohl, der mit selbst eingekochtem Johannisbeer-Gelee zart süß und fruchtig verfeinert wird.“ Der Winter füllt die Küchen und Wohnzimmer mit dem Duft von Plätzchen und den typischen Aromen wie Zimt, Anis, Marzipan und Mandeln. Hinzu kommt der Geruch nach Bratapfel, für den die heimischen Früchte mit Vorfreude schon im Spätsommer und Herbst geerntet worden sind. Im Frühjahr sind es Maiglöckchen und Waldmeister, die Lust auf die Maibowle machen, und im Sommer der würzige Duft von Heu und reifem Getreide, der sich mit den Aromen des reifen Obstes in den Gärten und an den Bäumen und Sträuchern in der Gemarkung paart.

Pilze selbst zu suchen, zu sammeln und dann zu verarbeiten, das ist schon selbst ein Akt des Genusses."  Heinz Kaul
"Pilze selbst zu suchen, zu sammeln und dann zu verarbeiten, das ist schon selbst ein Akt des Genusses."  Heinz Kaul.  Foto: George Chernilevsky
 
Für den Kultur- und Weinbotschafter ist die enge Verzahnung von Heimat und Genuss auch der Naturverbundenheit und direkten persönlichen Arbeit in der Natur geschuldet. „Kräuter oder Pilze selbst zu suchen und zu sammeln oder Obst und Gemüse zu ernten und dann zu verarbeiten, das ist schon selbst ein Akt des Genusses und wird gekrönt und belohnt vom Geschmack der Mahlzeit.“ Eine Ausprägung dieser engen Verbindung von Heimat, Natur und Genuss ist für Harke das Einkochen von Marmeladen und Herstellung von Schnäpsen und Bowlen. Auch dabei gehe es um das Einfangen von Aromen in Kombination mit der Haltbarmachung von Lebensmitteln, die man direkt aus der Region gewonnen habe.
 
"Die Schlachtfeste auf dem großväterlichen Bauernhof waren für mich als kleiner Junge eindrucksvolle Erlebnisse."
„Alles aus dem Garten war als Kind schon toll und ist auch heute noch für mich mit heimatlichen Genüssen verbunden”, schwärmt Kaul. „Früher hatte man noch eine engere Verbindung zu dem, was auf dem Teller lag”, ergänzt Matthias Harke. In Zeiten von Fertiggerichten, Tütensuppen, Fast Food und Fleischnuggets gehe die Achtsamkeit im Umgang mit Lebensmitteln verloren. Besonders in Bezug auf Fleisch und Wurst sehen sowohl Harke als auch Kaul die Gefahr eines großen Verlustes kulinarischer Tradition, denn für beide ist das Metzgerhandwerk ein wichtiger Teil der Heimatküche. „Früher gab es nur sonntags Fleisch, es war etwas Besonderes.” Die Schlachtfeste auf dem großväterlichen Bauernhof waren für Kaul eindrucksvolle Erlebnisse. „Ich habe heute noch den Geschmack im Mund, wenn ich als Junge beim Schlachtfest das erste Schweine-Nierchen essen durfte.” Harke erinnert sich besonders an den typischen Geruch von Worschtsupp beim Schlachtfest.


Der Trend hin zur Heimatküche ist unverkennbar

Und wohin also geht die Reise in Sachen Heimatküche? Erlebt sie eine Renaissance oder stirbt sie unter dem Druck des globalen Nahrungsmittelmarktes peu à peu aus? Matthias Harke blickt optimistisch in die Zukunft. „Gerade bei der jungen Generation, bei den jungen Köchen und auch den Jungwinzern ist ein absolut positiver Trend hin zur Heimatküche und zur Region auszumachen. Das Bewusstsein für hohe Qualität, Schadstoffvermeidung und biologischen Anbau und Zucht hat sich durchgesetzt, und es ist eine ständige Weiterentwicklung auszumachen”, so der Vorsitzende des Vereins Gastland Nahe. Auch Heinz Kaul ist zuversichtlich: „Die Gastronomie prägt und unterstützt unsere regionale Küche. Hier liegt der Schwerpunkt eindeutig auf den regionalen Köstlichkeiten mit einem Geschmack, der erkennbar die Heimat widerspiegelt”.

„Meinen ersten Rausch vom Nahewein hatte ich im zarten Alter von sieben Jahren.”
Kann die Heimatküche einer Region Identität stiften? Absolut, sind sich Harke und Kaul einig. Was wäre zum Beispiel Bayern ohne die Weißwürste? Wie sehr die regionale Identifikation durch den Magen gehe, zeige sich auch im Urlaub: Für beide gehört es auf Reisen unabdingbar dazu, typische Gerichte auszuprobieren und zu kosten, um die Identität einer Region kennen zu lernen. Und was macht nun unsere Region kulinarisch im Besonderen aus? Neben den bereits erwähnten Speisen steht verständlicherweise der Nahewein mit ganz oben auf der Liste, allem voran der Riesling. Zum Thema Nahewein hat Kaul ein ganz besonderes Schmankerl aus seiner Kindheit zu erzählen: „Meinen ersten Rausch vom Nahewein hatte ich im zarten Alter von sieben Jahren”, schmunzelt Kaul. „Im Weinkeller beobachtete ich meinen Opa, wie er aus den Weinfässern mit einem Schläuchlein immer wieder probiert und kleine Schlucke genommen hat. Also steckte ich in einem unbeobachteten Moment auch einen Schlauch in ein Fass, zog daran und schluckte und schluckte, denn es hat ja nicht mehr aufgehört zu laufen. Ich schaffte es dann noch hoch bis in die Küche zur Oma und bin dann umgefallen.”

Heinz Kaul (r.) mit einem seiner Kollegen bei der Spargelschälaktion des Clubs der Köche im Nahetal auf dem Bad Kreuznacher Wochenmarkt
Heinz Kaul (r.) mit einem seiner Kollegen bei der Spargelschälaktion des Clubs der Köche im Nahetal auf dem Bad Kreuznacher Wochenmarkt.  Foto. Moderne Topfologie

Das Naheland schmeckt nach Schales und Rilles Ralles, Backesgrumbeere und Spansau

Der Wein ist also ein großes Eichmaß für die Heimatverbundenheit und das Heimatgefühl. Auf die Frage, welche Speisen die stärksten Heimatgefühle auslösen, sprudeln die Antworten nur so aus den Genussmenschen Matthias Harke und Heinz Kaul heraus: Backesgrumbeere mit saurer Soß, Kartoffelsalat nach dem Rezept von Tante Ellfried, Schales, Rilles Ralles, Lewwerworschtbrot, Wildschweinkeule und Linsensuppe. Doch sowohl für den Gastland Nahe-Vorsitzenden als auch für den Kultur- und Weinbotschafter steht die Spansau mit der für die Naheregion typischen Füllung, dem Füllsel aus Kartoffeln, Zwiebeln und Innereien vom Schwein an erster Stelle. Und was gehört traditionell zum Spansau-Essen dazu. Zum einen Fedi, also ein Glas vom jungen, noch gärenden Wein Federweißer, und zum anderen Geselligkeit. Denn einher mit dem Essen dieser regionalen Spezialität geht für Harke und Kaul unbedingt der Moment des gemeinsamen Genusses. Ein Spansau-Essen wird stets mit der Familie oder mit Freunden zelebriert.

"Ein Genuss, den man nicht teilen kann, ist nur ein halber."
Genuss und Geselligkeit, das sind ebenso zwei Seiten einer Medaille wie Heimat und Genuss. Ein Genuss, den man nicht teilen kann, ist nur ein halber. Heinz Kaul, der vor Jahren gemeinsam mit seiner Frau das Restaurant „La Cuisine“ in Bad Kreuznach leitete, appelliert an jeden, wieder mehr Augenmehr auf das „Gesamterlebnis Essen“ zu legen. „Denn der Genuss beginnt schon beim Einkaufen. Wer Freude am Einkaufen in der Region hat, vielleicht ja sogar auf dem Bad Kreuznacher Wochenmarkt, und auch an der Zubereitung von regionalen Lebensmitteln, der wird auch beim Essen mehr Genuss verspüren”.

Wie schmeckt für Dich Heimat?

Welches Essen ist bei Dir am engsten mit Deiner Heimat verknüft. Welches Essen löst bei Dir die intensivsten Heimatgefühle aus und durch welche Umstände ist genau diese Speise zu Deinem persönlichen "Heimatgericht" geworden? Schreib' mir unten in der Kommentarspalte Deine Antworten, ich bin gespannt!

Heimatküche - die Serie

Alle Teile der Blog-Serie HEIMATKÜCHE findest Du aufgelistet unter der Spezial-Rubrik Heimatküche hier im Blog in der Rubrikenübersicht.


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Autorin: Anette Rump
Foto der Weinberge ganz oben: Deutsches Weininstitut