Im Gegenteil! Es gärt in vielen der traditionellen Backstuben der Nation - und was da gärt, ist nicht (nur) der Sauerteig, sondern die Frustration und die Wut der Bäckermeister über die aktuelle Situation ihres jahrhundertealten Handwerks.
Es ist Zeit, über gutes Brot zu reden - und zwar dringend. Zeit, weil im Brotback-Weltmeisterland Deutschland, wo rund 300 verschiedene Brotsorten angeboten und über 3000 Brotspezialitäten im deutsche Brotregister aufgelistet werden, das Bäckerhandwerk mit dem Rücken zur Wand steht. Vor 50 Jahren gab es noch 55000 Bäckereien im alten Bundesgebiet, heute sind davon deutschlandweit nur noch rund 13000 übrig, und es werden Tag für Tag noch weniger. 365 Tage hat das Jahr - und genauso viele Bäckereien verschwinden laut Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks jährlich von der Landkarte. Jeden Tag macht statistisch gesehen irgendwo in Deutschland eine Bäckerei die Türen für immer dicht - und ein Ende dieses Bäckereien-Sterbens ist noch lange nicht auszumachen.
Es ist Zeit, über gutes Brot zu reden - und zwar dringend und mit denen, die es mit selbst angesetzten Teigen und hohem Zeitaufwand in handwerklicher Arbeit herstellen: mit den Bäckern! Zeit, weil mit LIDL ein Discounter die „Meinungsführerschaft“ an sich reißen möchte und uns erklären will, „woran man eigentlich gutes Brot erkennt“. Wenn Lidl, dessen „Backkunst“ darin besteht, tiefgefrorene Massenware aufzutauen und in den Ofen oder Backautomaten zu schieben, diese Frage in seiner aktuellen Marketing-Kampagne zunächst mit Allgemeinplätzen beantwortet („am Geschmack“, einer „schönen Kruste, dem "guten Duft“), und dann nachschiebt, gute Qualität erkenne man am „guten“ Preis (und billigen Preis meint), wird klar: Das primäre Ziel des Discounters ist es, die eigene Preis-Dumping-Strategie als Qualitätsmerkmal zu verkaufen und dem Konsumenten vorzumachen, dass gute Qualität billig zu haben ist.
Bäckerei Ruß in Guldental: Ein "kleiner Bauchladen" gegen die Flut von Aufback-Öfen
"Backwaren, die gibt es doch heutzutage in jedem Hasenstall zu kaufen"
„Ja, das gesamte Umfeld hat sich für uns Bäcker schon gewaltig verändert.“ Mit 15 stieg Ruß bei seinem Vater in die Lehre ein, mit 19 machte er im Jahr 1979 seinen Meister (damals war er der jüngste Bäckermeister Deutschlands), 1986 übernahm er zusammen mit seiner Frau den im Jahr 1888 von seinem Urgroßvater Philipp gegründeten Betrieb. Die Ruß’sche Bäckerei im alten Dorfkern in der Hauptstraße 24, die gehört in der kleinen Weinbaugemeinde Guldental zum festen Ortsbild wie die Kirche. Doch dass es die Bäckerei immer noch gibt, ist keineswegs selbstverständlich: „Die kleinen Bäckereien, die steh‘n doch heute unter Bedrängnis wie nie zuvor“, analysiert Ruß. „Früher, da gab es in der Nähe vielleicht noch ein oder zwei andere Bäcker - das war dann ein Wettbewerb auf Augenhöhe. Aber heute: Heute gibt es doch Backwaren in jedem Hasenstall zu kaufen.“
Bäckermeister Helmut Ruß bringt einen Natursauerteig in Form. |
Der Konkurrenzdruck auf die kleinen handwerklichen Bäckereien war noch nie so groß wie heute, bestätigt auch der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks. Reihenweise wurden in den vergangenen Jahren in Supermärkten, bei Discountern und in Tankstellen Backautomaten aufgestellt, und Selbstbedienungs-(Auf)Back-Shops, die industriell vorgefertigte Ware zu Discount-Preisen unters Volk bringen, sprießen in den Innenstädten wie Pilze aus dem Boden. In Bedrängnis gebracht werden kleine Bäckereien aber nicht nur durch die wachsende Zahl von Backautomaten, die „in jedem Hasenstall“ Brot und Brötchen zu Discount-Preisen ausspucken, sondern auch durch steigende Rohstoff-, Lohn- und Energiekosten. Eine Entwicklung, die in der Bäckereien-Branche mittlerweile auch Filialketten mit bis zu 50 Verkaufsstellen in Bedrängnis bringt. „Bis 2020 werden mehr als ein Drittel der Betriebe in der Bundesrepublik aufgeben müssen. Die Zahl der Bäckereien wird von 14000 auf 8000 sinken“, sagt Helmut Klemme, Präsident des Verbandes Deutscher Großbäckereien, voraus.
"Nicht billiger werden, sondern besser"
"Billig, billig, billig - das können Aldi und Lidl doch viel besser."
Qualität ist das Mantra, das Bäckermeister Ruß Tag für Tag ab ein Uhr nachts in seiner Backstube singt. Die oft bemühte „gute handwerkliche Qualität“ ist für ihn keine Werbefloskel, sondern Verantwortung, Antrieb und Überlebensmaxime zugleich. „Denn eines muss doch inzwischen wirklich jeder gemerkt haben: Mehr, schnell und billig, billig, billig, das können Aldi und Lidl doch viel besser als wir, auf der Schiene können wir den Kampf nie und nimmer gewinnen“, so der Guldentaler, der den Spieß deshalb umkehrt: „Wir kleinen Bäcker, wir müssen Qualität statt Menge liefern. Wir müssen uns auf unser Handwerk und unser handwerkliches Können besinnen. Wir dürfen kein Einheitsbrei herstellen, wir müssen unsere Kunden mit individuellen und qualitativ erstklassigen Broten und mit kleinen Chargen von Spezialitäten bedienen, und das nicht zu einem billigen, sondern zu einem angemessenen Preis. Und den bezahlt der Kunde auch, wenn er merkt: Mensch, so ein besonderes Brot in dieser Qualität, das bekomme ich nur dort in dieser kleinen Dorfbäckerei und nirgendwo sonst.“
Bäckermeisterin Karmen Kron ist in der kleinen Backstube die rechte Hand von Helmut Ruß. |
Gutes Bäckerhandwerk braucht Dreierlei: Wissen, Leidenschaft und Zeit . . . viel Zeit
Rund fünfmal so teuer wie herkömmliche Ware ist das Schweizer Ruchmehl, das Helmut Russ für das Walliser Landbrot verwendet. |
Die beiden alpenländischen Brote führte Ruß ebenso wie das Urgetreidebrot „Opa Philipp“, bei dem neben Dinkelmehl alte Getreidesorten wie Einkorn, Emmer und Waldstaudenroggen verarbeitet werden, zum 125-jährigenen Bestehen seiner Bäckerei ein. In allen drei Broten stecken neben den hochwertigen und besonderen Zutaten eine Menge Zeit und Handwerkskunst - und genau das hebt sie von industriell gefertigten Backwaren ab. Zugleich dokumentieren sie den Ruß’schen Qualitätsanspruch: „Geht so, das geht nicht! Wir kleinen Bäcker müssen einfach mehr liefern als die vielen Aufback-Betriebe. Wir müssen den Leuten etwas in die Tüten legen, das eine erstklassige Qualität hat. Unser Ziel muss es sein, ein Brot so gut zu machen, dass man es Tag für Tag 20 oder 30 Jahre lang hintereinander backen könnte und es die Leute es immer noch haben wollten, weil es so gut und einmalig ist.“
"Geht so, das geht nicht! Wir kleinen Bäcker müssen einfach mehr liefern."
Und die Leute in Guldental und weit darüber hinaus wollen sie haben, die Ruß’schen Backwaren. 95 Prozent der Kunden der kleinen Bäckerei sind Stammkäufer, rund die Hälfte davon kommt von Außerhalb. Besonders deutlich sichtbar wird dies an Samstagen. Dann parken rund um die Bäckerei besonders viele Autos mit auswärtigen Kennzeichen und Kundinnen aus Frankfurt oder Wiesbaden tragen buchstäblich wäschekörbeweise Brote aus der Dorfbäckerei, um Verwandte, Freunde und Nachbarn mit Backwaren aus Guldental zu versorgen. Gefragt sind die Brote und Gebäcke aus der Familienbäckerei aber nicht nur bei Privatkunden. Auch viele namhafte regionale und überregionale Restaurants und Hotels wissen die Backkunst von Helmut Ruß zu schätzen und gehören zum Kundenkreis, so das Spitzenrestaurant von Sternekoch Johann Lafer im nahen Stromberg, das Luxus-Hotel Jumeirah in Frankfurt oder das 5-Sterne-Hotel Schloss Elmau im Wettersteingebirge in Oberbayern, wo Anfang Juni der nächste G-7-Gipfel stattfinden wird.
Zum guten Brot gibt es von Anja Ruß ein Lächeln gratis dazu. |
Backermeister Helmut Ruß und sein fleißiges Backstubenteam. |
Grundsätzlich gilt: Je niedriger die TA ist, desto fester sind Teige, je höher die TA ist, desto weicher sind sie. Bei Brötchen und Weizenbrot liegt die TA bei rund 155, bei Roggenmischbrot bei rund 170, bei reinem Roggenbrot um die 180 und bei Schrot- und Vollkornteig bei bis zu 190. Mit einer TA von 190 bis 195 übertreffen die beiden Brote von Helmut Ruß diesen letzten Wert sogar noch. Aber: Nur das Wasser allein macht noch nicht die Musik, denn ein wesentlichen Faktor muss ergänzt werden: Zeit! „Kombiniere ich einen hohen TA-Wert mit einer langen Stehzeit“, erläutert Ruß, „dann fördere ich die bessere Verquellung der Mehle. Dadurch entstehen auch Geschmacksstoffe. Die Backwaren bleiben deshalb nicht nur länger frisch, sondern auch das Aroma profitiert.“
Und Zeit, die gibt der Bäckemeister den Teigen. Für das nach einem Tessiner Rezept gebackene Centovalli Dinkel, das an ein italienisches Ciabatta erinnert, ist eine Teigruhe von mindestens 24 Stunden vorgesehen. Und der Teig für das Walliser Landbrot mit der kräftigen Kruste und groben Porung (Ruß: „Da müssen Löcher drin sein, die dürfen auch ruhig mal so groß sein wie ein Hühnerei.“) ruht sogar bis zu 28 Stunden lang. „Beide Teige sind extrem weich und schwierig zu handhaben. Daraus mit der Maschine Brote zu machen“, ergänzt der Bäckermeister, „das ist unmöglich“. Das muss der 55-Jährige aber zum Glück (für die Kunden) auch gar nicht: Seine erfahrenen Hände spüren von selbst, wie ein Teig - auch ein empfindlicher - zu HANDhaben ist.
Links das Walliser Landbrot, rechts das Centovalli Dinkel. |
Fotos: Moderne Topfologie
Ein toller Artikel, Herr Philosophie-Kollege. Ich wohne auf dem Land und selbst hier ist es schwierig, gute Handarbeit zu bekommen. Dabei sind es nicht nur Backshops in Discountern und "Hasenställen", sondern auch "normale" (Meister-) Bäckereien, die aus Kosten- oder Zeitgründen fertig gekaufte Mehlmischungen zusammenkippen und daraus herzlose Massenware produzieren. Für den Konsumenten ist es oft schwer zu erkennen, ob "sein" Bäcker eigene Sauerteige verwendet oder sich vom Großhandel nachhelfen lässt. Da hilft nur Fragen und auf eine ehrlich Antwort hoffen.
AntwortenLöschenJa, da kann ich Dir nur voll und ganz zustimmen! Und auch der Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks wird wohl trotz aller Marketing-Anstrengungen diese Misere nicht besser machen. Beispiel: Der Verband hat jetzt pünktlich zum "Tag des Deutschen Brotes" eine Verbraucher-Offensive unter dem Motto "Schluss mit dem inflationären Gebrauch des Begriffs Bäcker!" gestartet. An sich gut, aber die Kampagne greift viel zu kurz und setzt den Hebel auch falsch an.
AntwortenLöschenPräsentiert wird eine neues, historisches Qualitätssiegel, das sich die "guten Bäcker" an die Geschäftstüren kleben sollen, um so für den Konsumenten besser erkennbar zu sein. Toll, oder? Eben nicht! Denn das Siegel kann von allen genutzt werden kann, die Mitglied in der Bäckerinnung und somit im Zentralverband sind. Sprich: Jeder, also auch ein Bäckermeister, der in seiner Backstube bloß Brötchen- und Brotteiglinge aufbackt, kann sich das Siegel anheften. Eine echte Qualitätsprüfung findet nicht statt, die Innungsmitgliedschaft und ein Meistertitel reichen aus! Ob ein Bäcker tatsächlich mit handwerklichen Könnens in seiner Backstube individuelle Produkte mit Charakter herstellt - auch das neue Siegel wird es nicht verraten. Verlassen kann sich der Verbraucher weiterhin nur auf seine eigenen Sinne und die Ehrlichkeit seines Bäckers.
Für diese schmackhaften Brote nehme ich gerne einen Umweg in Kauf, es ist wirklich sehr schwer gutes Brot zu bekommen.
AntwortenLöschenJa, das stimmt. Weil man dem Bäckerladen von Außen nicht ansieht, wie drinnen in der Backstube gearbeitet wird. Da hilft nur probieren und fragen - und sich Anregungen in (Blog)Artikel über gutes Brot holen. ;-)
LöschenIch kenne diese Bäckerei und habe das Glück, im gleichen Ort zu wohnen, das Brot und die Brötchen also täglich frisch zu genießen. Wenn Anja und Helmut Urlaub machen, vermisse ich die Backwaren, fahren wir in Urlaub, geht es mir genauso.
AntwortenLöschenEs geht nichts über einen Bäcker, der sein Handwerk versteht und seine Arbeit liebt.
Ja, das stimmt, wer noch so einen leidenschaftlichen Bäcker im Dorf hat, der darf sich wirklich freuen!
Löschen